Artgerecht Projekt,  Burnout-Prävention,  Erziehung,  friedvolle Elternschaft,  Kindergartenkind,  Mobbing-Prävention,  persönliches,  Selbstfürsorge

Friedvoll durch die Quarantäne mit Kind – ganz ohne Schimpfen!?

Für manche klingt es wie ein unerreichbares Ideal. Für andere ist es eine willkommene Herausforderung: „Erziehen ohne Schimpfen“. Ob das gelingt – auch in Krisen- und Ausnahmesituationen – hängt in erster Linie davon ab, wie gut wir für uns selbst sorgen. Mitten in der Quarantänezeit vom Frosch entscheide ich mich nochmal ganz bewusst für genau diesen Weg. Ich fühle mich gut vorbereitet und gewappnet. Ob und wie mir das gelungen ist, liest du in diesem Beitrag. Ich nehme dich mit auf meine Reise zur friedvollen Elternschaft, und meine ganz persönliche „12 Tage Quarantäne ohne Schimpfen“ – Challenge.

Schon seit fast einem Jahrzehnt übe ich mich in gewaltfreier Kommunikation. In den letzten fast vier Jahren sogar in gewaltfreier Erziehung. Ich habe schon unglaublich viel gelernt. Doch bin auch ich nur eine Übende. Ich bin nicht perfekt und das ist gut so. Unser Familien-Alltags-Wahnsinn lädt mich jeden Tag ein zu reflektieren, zu lernen und Neues auszuprobieren. Im Alltag genauso wie in Ausnahmesituationen wie z. B. – Trommelwirbel – eine öffentlich angeordnete Isolation aufgrund der Pandemie. In diesem Beitrag möchte ich dich mitnehmen auf einen besonderen Abschnitt meiner Reise zur friedvollen Elternschaft. Eine Situation, die unzählige Familien in 2020 und 2021 mitunter schon mehrmals durchgemacht haben. Für andere schwebt dieses Damokles-Schwert weiterhin über ihren Köpfen. Dieser Beitrag soll Erfahrungsbericht und Ispiration sein. Ich möchte uns allen Mut machen und Anregungen geben, wie Familien und insbesondere unsere Kinder gesund und gewaltfrei durch eine solche Zeit kommen können. Doch fangen wir vorne an.

Döm dömm dömm!

Es ist Samstag und mein Telefon klingelt. Der Kindergarten ruft an. Während ich noch verwundert den Anruf annehme wird mir klar: Das ist der Anruf auf den wir seit Monaten warten. Irgendwann musste es passieren. Bisher hatten wir Glück: Doch da ist er, der erste bestätigte Fall im Kindergarten. Zwei Wochen Quarantäne sind angesagt. Bzw Isolation, denn krank ist der Frosch selbst nicht. Da der Kontakt schon einige Tage her ist, liegen nur noch 11 Mal Schlafen vor uns, bis der Frosch wieder die Wohnung verlassen darf. „Döm dömm dööömmm!“, geht’s mir durch den Kopf.

Ich muss schmunzeln, ja wirklich. Am Morgen dieses Tages hatte der Frosch direkt nach dem Aufwachen erklärt, dass er heute nicht rausgehen wolle. Lächelnd hatte ich gefragt: „Du brauchst mal wieder einen Nesttag, oder?“ Schon überlegend, wie wir ihn am Nachmittag davon überzeugen könnten, dass wir zum Rasenmähen zum Grundstück fahren wollen. Rheineis wäre sicher ein gutes Argument. Die Diskussion darüber hatte ich allerdings erstmal zurückgestellt. Und nun muss ich schmunzeln und denke: „Wie war das? Man sollte aufpassen, was man sich wünscht…?“ Aus einem Nesttag werden jetzt direkt ein Dutzend am Stück.

Ich bleibe überraschend ruhig. Während der Lieblingsmann innerlich explodiert und Druck ablässt. Der Anruf erwischt ihn zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt, denn er kommt gerade erst von der Frühschicht zur Tür herein. Geschenkt. Ich konzentriere mich auf das, was wirklich wichtig ist: Ich gebe meinem Kind, das verwirrt fragt, wieso es nicht mehr raus darf, Sicherheit und Halt.

Wir schaffen das! Oder?

Es war nur eine Frage der Zeit. „Komm wir lesen erstmal ein Buch. Wir haben doch gestern erst diesen Stapel in der Bücherei ausgeliehen.“ Doch das Kopfkino nimmt Fahrt auf. Welche Schicht hat der Lieblingsmann in der kommenden Woche? Spätschicht. Okay. Welche Termine kann ich wahrnehmen? Welche sage ich ab? Wen muss ich anrufen? Welche Aufgaben kann ich hinten über fallen lassen? Denn eins ist mir klar: Die To-Do-Liste wird in jedem Fall kürzer ausfallen müssen, wenn wir gut durch die Zeit kommen wollen. Und ich darf mich im Gedanken üben: „Ich schaffe das, was ich schaffe! Das wird genug sein.“ Prioritäten setzen ist nun angesagt. Meine Prioriät: Uns alle irgendwie ohne Knacks da durch bringen.

https://www.instagram.com/p/CLcKCZsF0Uy/

Ich denke an unsere Premium-Kontakt-Familie. Meine Freundin hat in der Quarantäne ihres Sohnes im Winter auf vollste Solidarität gesetzt. Die Großen haben in den zwei Wochen nur das Haus verlassen, wenn der Kleine geschlafen hat. Ein Hoch auf Supermarkt-Öffnungszeiten bis 22 Uhr! Und ich erinnere mich an ihre Schilderung von einem wahnsinnig aufgebrachten Kind, das weinend und flehend versucht hat, die abgeschlossene Wohnungstür zu öffnen und jede Nacht mit Alpträumen aufgewacht ist. Würde unser Frosch auch täglich mehrfach traurig nach den anderen Kindern im Kindergarten fragen? Wie viel Emotionsarbeit kommt da in den nächsten Tagen auf mich zu? Puh. Atmen. Wochenplan schreiben.

Zunächst eine Spätschichtwoche vom Lieblingsmann. Also können artgerecht Treffen und Babygruppe stattfinden. Zumindest in der ersten Woche. Ja, wir Großen werden in jedem Fall zwischendurch das Haus verlassen. Auch wenn es evtl schwer fallen wird, den Frosch dann zu begleiten. Ich sage traurig alle Spiele-Dates und die nächsten beiden Oma-Opa-Nachmittage ab. Ich bereite mich mental auf Kaugummi-Nachmittage und Abende vor. Und frage mich bereits, wie ich dieses energiegeladene Kind nur müde bekommen werde. Außerdem informiere ich unsere Kontakte der letzten Tage und frage meine Community in den Storys nach Ideen und Tipps für die nächste Zeit.

Mein Mann kämpft gegen den Panikmodus, erinnert sich an seine erste Urlaubswoche, in der ich sehr viel gearbeitet hatte. Es folgt nicht nur ein Pfahl, sondern ein ganzer Zaun. Eine Stimme in mir schreit auf, will den Zaun zurück werfen. In meinem Kopfkino schreie ich es hinaus, dass meine Arbeit auch wichtig ist und er sich glücklich schätzen kann, acht Stunden am Tag raus zu kommen.

Atmen. Dieses Fass will ich jetzt nicht aufmachen. Wir schaffen das. Dann schreibe ich halt diese Woche keinen Blogbeitrag. Oh Gott, die Beiträge vom ABC eines artgerechten Familienlebens sind nicht mehr vorgeplant. Und auf die Klönbank bei Instagram möchte ich auch nicht verzichten. Wir schaffen das. Atmen.

Wir sollen ein Symptom-Tagebuch führen und zwei mal am Tag Fieber messen. Wir brauchen ein Ohr-Thermometer! Sofort bestellt der Lieblingsmann eins. Dankbarkeit.

Radikale Annahme. Was brauche ich?

Es ist fast Vollmond. Und ich habe meine Tage. Ich beschließe, die Nacht im Mondlicht zu verbringen, suche mir abends noch eine passende Meditation aus. Ich bin mir bewusst, wie gut ich in den nächsten Tagen für mich sorgen sollte, damit wir diese zwölf Nesttage überstehen, ohne uns die Köpfe einzuschlagen oder uns wütend anzubrüllen. Im Alltag gelingt uns das schon sehr gut, doch diese Tage werden auch uns sicher herausfordern.

Die ersten Tage gehen entspannt ins Land. Sonntag möchte der Frosch runter in den Garten zur Nachbarstochter. Wir erklären ihm, dass wir das jetzt erstmal nicht dürfen. Er fragt nochmal kurz nach, etwas aufgebracht: „Aber wiesoooo?“ Mir rutscht ein bisschen das Herz hinunter, erkläre es nochmal ruhig und schließe mit „Kack-Corona!“ Er grinst und beginnt die Nachbarstochter mit seiner Wasserpistole abzuschießen. Ein Pläuschchen, Kinder-Gekicher. Die Nachbarin leiht uns ihr Thermometer, bis unseres angekommen ist. Kein Fieber. Lolli-Test ist (und bleibt) negativ. Am Abend, als ich frage, was heute besonders schön war, flüstert er lächelnd: „Die Wasserschlacht!“. Danke, Balkon!

Montag telefonieren wir um die Mittagszeit das erste Mal mit dem Kindergarten-Freund vom Frosch. Die Jungs haben einen riesen Spaß zusammen, essen gemeinsam ihr Mittagessen, kichern und erzählen sich Quatsch. Machen Geräusche, zeigen ihre Spielzeuge. Ja, das machen wir jetzt jeden Tag, beschließen wir.

Ich staune über mein Kind, das sich wie selbstverständlich in die Situation fügt. Sich anpasst und dabei völlig gelassen bleibt. Radikale Annahme. Was anderes bleibt uns sowieso nicht übrig.

Ich setze auf volle Kooperation meinerseits und höre mich in dieser Woche 1000 Mal rufen „Das ist eine tolle Idee!“. Wir sind voll im Dino-Fieber. Dank eines Tipps aus meiner Community stoße ich auf den Dino-Wochenplan von „Kita to Go“/Hooraybox und finde dort zahlreiche Ideen für die Woche. Wir basteln Dinos, mit denen wir danach spielen können. Wir malen Vulkane mit Fingerfarben. Und ich halte damit meinen Dopamin-Spiegel hoch. Ein wichtiges Hormon, das zu unserem Wohlbefinden beiträgt. Unser Gehirn schüttet es dann aus, wenn wir etwas erschaffen und/oder bauen. Ob Dinos, Steckstein oder Murmelbahnen. Etwas basteln oder bauen, macht glücklich. Das merke ich in diesen Tagen wieder sehr. Ganz besonders stolz bin ich auf die Pteranodons und den Triceratops. Natürlich läuft auch täglich der Dino-Zug (und mehr) und wir entdecken die App einer bekannten Schokoladenfirma, in der wir Fossilien sammeln, Dinos wiederbeleben und mit ihnen Mini-Spiele spielen können. Und so kuscheln oder toben wir uns durch die Nachmittage, mit Mira und das fliegende Haus, Hexe Lindebart, Heavysaurus oder einfach nur eine Rock-Playlist in den Ohren.

Am Freitag die Klönbank mit Birthe Müller-Rosenau über „Wertschätzende Kommunikation im Familienalltag“ ist für mich eine willkommene Pause und eine große Inspiration. Wir sprechen über die Reise zur friedvollen Elternschaft und warum sich das lohnt. Birthe schildert mir, wie sehr sie sich von dem Anspruch „Erziehen ohne Schimpfen“ unter Druck gesetzt fühle. Daher stelle sie diesen Anspruch gar nicht an sich selbst. Und so erzählte Birthe, wie sie ihre Wut im Alltag kontrolliert und möglichst gewaltfrei ablässt. Wie bei einem Schnellkochtopf – Pfft pffft! Dieses Bild wird mir so schnell nicht mehr aus dem Kopf gehen, liebe Birthe! 😉 Und genau hier sind wir voll auf einer Linie.

Die Frage ist ja erstmal: Was verstehen wir unter Schimpfen?

Schimpfen ist erst dann gewaltvoll, wenn es das Kind bedroht, seelisch verletzt, erpresst und/oder dem Kind schlicht Angst macht. Schimpfen ist nicht Schreien, sondern losgelöst von Lautstärke. Ein geflüstertes „Wenn das nicht in 5 Minuten aufgeräumt ist, dann komme ich mit dem blauen Sack!“ ist genauso gewaltvoll wie ein über den Spielplatz gebrülltes „Wenn du jetzt nicht sofort kommst, gibt es gleich kein Eis!“. Vielen Eltern ist glaube ich gar nicht bewusst, wie gewaltvoll solche Sätze – und unsere Alltagssprache im allgemeinen – sind. Und meistens fehlt ihnen schlicht eine Alternative. Insbesondere unter Stress.

Ein lauter Giraffenschrei (wie es in der GFK so schön heißt) „Ahhh, ich brauche Ruhe!“ mit anschließender gewaltfreier Flucht und eventuell gegen die Wand gerichtetes Motzen ist nach dieser Definition eins nicht: Schimpfen. Mein persönlicher Favorit ist ein Rumpelstilzchen-Tanz und in Kissen brüllen. Bevor ich mein Kind anbrülle und Worte rausschreie, die ich nicht sagen will, nehme ich knurrend Abstand, springe fluchend, in Kissen kreischend und schlagend durchs Wohnzimmer. Das hat den Frosch beim ersten Mal zwar etwas erschreckt, jedoch vor allem erstaunt wie mir schien. Und zusätzlich sofort wieder zurück in den Kooperationsmodus gebracht.

Natürlich darf ich als Elternteil wütend sein und diesem Gefühl Ausdruck verleihen. Die Wut braucht ein Ventil. Sie braucht Raum. Und den dürfen auch wir Eltern uns verschaffen. „Jedes Gefühl darf sein“ gilt nicht nur für unsere Kinder. So leben wir ihnen vor und zeigen ihnen, wie wir (sozial verträglich) mit starken Emotionen umgehen können. Auch das ist Co-Regulation. Wir zeigen unseren Kindern damit: Hüpfen, Stampfen, Schreien sind okay. Andere verletzten und schlagen jedoch nicht. Sachen durch die Gegend werfen auch nicht. Zumindest nicht die harten.

Manchmal braucht es ein Machtwort. Die Frage ist nur, wie wir dieses Machtwort aussprechen.

Alles steht Kopf! Ein großartiger Film über die Macht der Gefühle.

Ich hab das inzwischen echt ganz gut drauf mit dem Erziehen ohne Schimpfen. Oder mit dem gewaltfreien Motzen. Es ist Übungssache und eine Frage der Haltung. Auch Nicola Schmidt vergleicht diesen Weg mit dem Erlernen einer neuen Sprache. Das beginnt mit mir selbst und der Entscheidung, es von jetzt an anders zu machen.

https://www.instagram.com/p/CTU4uMkiX-e/
Nicola Schmidt’s Buch „Erziehen ohne Schimpfen“ ist ein unglaublich wertvoller Begleiter auf dem Weg zur friedvollen Elternschaft. Es hat mir persönlich so geholfen und bestärkt auf meinem Weg. Und mir Klarheit gebracht, dass ich mich mit dem Thema Stressmanagement und Burnout-Prävention besonders an Eltern wende.

Dabei machen wir nunmal auch Fehler oder erleben Rückschläge. Wir lernen mit der Zeit unseren eigenen Dialekt und probieren aus. Was fühlt sich gut an auf der Zunge und im Herzen? Waren meine Worte gewaltfrei UND authentisch?

Auch mir rutschen manche Aussagen über die Lippen, die im Nachhinein betrachtet nicht gewaltfrei sind. „AUA! Bist du verrückt!?!“ habe ich zum Beispiel den Frosch angeschrien, als er mir am Vorabend der Klönbank mit Birthe einen Plastik-Siffon gegen Brille und Nase schlug. Nach Untersuchung meines blutenden Nasenrückens und Inspektion meiner Brille konnte ich jedoch direkt einwenden: Das war ein Unfall! Kann passieren. Kein Grund sauer zu sein. Da ich vom Telefonat mit meiner Mutter abgelenkt war, habe ich es nicht geschafft auszuweichen. Ich selbst bin verantwortlich dafür, dass das passiert ist.

Und wenn mir in manchen Situationen doch mal schlimmere Worte über die Lippen kommen, kann ich das ebenfalls aus vollem Herzen sagen: Kann passieren! Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich dem Frosch gesagt habe: „Du, es tut mir leid, dass ich dich vorhin so angebrüllt habe. Das war gemein von mir. Du hast alles Recht, jetzt wütend auf mich zu sein.“

Birthe erzählte auf der Klönbank von einem wundervollen Ritual, um genau sowas im Alltag mit Kindern zu reflektieren. Beim „Feiern und Bedauern“ lässt es sich einerseits wunderbar Glücks-Splitter sammeln. Andererseits bietet es die Gelegenheit, auch die weniger schönen Situationen zu reflektieren und alternative Verhaltensweisen zu überlegen.

Wie Birthe in unserem Gespräch geschildert hat, ist Selbstempathie der erste Schritt. Ein Blick auf mich selbst und wie es mir ging in der Situation, die ich bedauere. Es geht nicht um „Hätte ich mal lieber…“, sondern um „Wie könnte ich es beim nächsten mal anders machen?“. FEHLER sind HELFER, wir brauchen sie um zu lernen und zu wachsen.

Die Reise zur friedvollen Elternschaft beginnt bei uns selbst. Und mit einem Blick zurück auf das, was ich bisher erlebt und gesehen habe. Welche Überzeugungen und vermeintliche Wahrheiten hat mein Gehirn über Kinder und Erziehung abgespeichert?

Es hat mir doch auch nicht geschadet. Oder doch?

Gewalt gegen (uns) Kinder war für mich lange Zeit normal. Ich komme aus einer Familie und bin in einem Umfeld aufgewachsen, in der laute und gewaltvolle Sprache an der Tagesordnung war. Body Shaming. Lästern. Mobbing. Ich war auf einem Mädchenngymnasium – hier gab es zwar weniger offene Aggression, dafür mehr passiv-aggressives Verhalten. Vor kurzem hatte ich eine spannende Unterhaltung mit einer Freundin. Wir haben zusammen Abi gemacht, doch zu Schulzeiten hatten wir nicht viel gemeinsam. Erst schwanger auf dem Stadtteil-Fest und wenige Monate später im Rückbildungskurs haben wir uns wiedergetroffen. Seit dem haben wir viele gemeinsame wunderschöne Stunden mit und ohne Kinder, mit und ohne Partner, im Garten und per Videotelefonie sowie mit dem ein oder anderen Glas Wein verbracht. So auch an dieser Mom’s Night Out im Juli, als wir beim zweiten Glas Wein auf die Schulzeit zu sprechen kamen. Wir fragten uns, warum wir damals nichts miteinander zu tun hatten. Während ich sie seinerzeit komisch fand und arrogant, hat mich ihre Wahrnehmung von mir sehr nachdenklich gestimmt: „Ich fand dich damals auch komisch. Du warst so aggressiv.“

Ja, im Rückblick kann ich das verstehen. Ich hatte einen dicken Panzer, fand mich selber ziemlich uncool und habe erst rund ums Abi begonnen, diese innere Mauer einzureißen. Ich begann, mich mit meiner Kindheit auseinander zu setzen und diesen „man“ zu hinterfragen, wegen dem bestimmte Dinge so sein sollen, wie sie sind. Seit unserem Abi-Jahr 2004 ist einige Zeit vergangen und ich habe eine lange Reise hinter mir. 

Ich erinnere mich an einen Schlüsselmoment. Ein Gespräch beim Grillen einige Jahre später mit der Schwester meines damaligen Partners. Ihr kleiner Sohn saß im Hochstuhl mit am Tisch und wir sprachen über Kindererziehung. Sie stellte klar: Niemand schlägt meinem Kind auf die Hände oder sonst wo hin. Und da kam dieser Satz über meine Lippen: „Mir hat es doch auch nicht geschadet.“ Wie falsch ich damit lag, erkannte ich in den folgenden Jahren.

Zu dieser Zeit kamen auch einige ganz besondere Bücher in mein Leben. Der Pfad des friedvollen Kriegers von Dan Millmann hat mich damals tief beeindruckt. Ebenso wie die Prophezeihungen von Celestine. Ich hatte diese CD „Meditation für Anfänger“ und ich erinnere mich, wie intensiv ich die „Liebevolle Güte“ übte – täglich. Mit Hilfe dieser Meditation habe ich mir eine richtig coole rosa-rote Brille ins Gehirn gepflanzt, die ich jederzeit aufsetzen kann. Dann leuchtet meine Umwelt plötzlich und bekommt diesen Glanz. Ich blicke Menschen an und ich sehe sie in ihrer ganzen Schönheit. So fällt es mir leicht, 1000 gute Gründe für jedes Verhalten zu finden. Ich sehe mein wütendes Kind und sehe seine Not.

In diesen Tagen der Quarantäne bin ich besonders dankbar für all das Wissen, das ich mir über die Jahre angeeignet habe. Für all das Üben einer gewaltfreien Sprache. Natürlich erleben wir nicht nur Friede, Freude und Eierkuchen – wobei Pfannkuchen backen hier jedes Mal ganz viel Liebe und Freude in den Bauch zaubert. Und trotzdem halte ich das Konfliktpotential ganz bewusst so niedrig wie möglich. Ich gehe als Erwachsene in den vollen Kooperationsmodus. Insbesondere in den Stunden, in denen der Frosch und ich alleine sind. Ich tanke seine Kooperationstanks auf und halte meine Grenzen so flexibel wie möglich. Und meine Ansprüche. Ich halte Langeweile aus und die innere Stimme, die mir zuflüstert, dass drei Folgen Dino-Zug doch jetzt endlich mal genug sind.

Womit ich persönlich ja wunderbar leben kann, ist Chaos. Und auch der Frosch liebt es. Und so mutiert unsere Wohnung an den Nachmittagen zu einem Spiele-Schlachtfeld. Glücklicherweise beinhaltet „Nicht den Boden berühren“, dass dieser vorher zumindest von Kleinteilen befreit wird, die bei Stürzen weh tun würden. Doch während ich grundsätzlich ohne Probleme den ganzen Tag über die selben Spielzeuge steigen kann, löst das in meinem Mann großen Stress aus. Und so kommt zum Wochenende natürlich ein Zaunpfahl-Hilferuf. Beim Frühstücks-Picknick will der Frosch seinen neuen Autositz holen, der schon die ganze Woche als Kino-Sitz fungiert. Doch der Lieblingsmann will erst noch aufräumen und putzen. Und ja, es ist nötig. Ständig habe ich Honigpops unter den Füßen kleben…Der Frosch ruft „Ihr sollt euch nicht streiten!“. Statt zu explodieren, kühle ich mich beim Aufräumen und Staubwischen ab. Danach schauen wir alle zusammen „Das Dschungelbuch“, essen Gummibärchen und Studentenfutter. Den Popcorn-Mais hatte ich verpeilt wieder auf die Einkaufsliste zu setzen. Kann passieren! Am frühen Abend sagen wir Ja zu einem zweiten Film, den der Frosch schon kennt und den er wieder in seinem Kino-Sitz schaut. Diesmal während er das Abendessen mümmelt.

In den letzten Tagen der Quarantäne haben mich noch zwei Dankbarkeits-Highlights über Wasser gehalten. Zuerst kam da das Paket von unserer „Patenfamilie“ mit einem Buch und ein mega Seifenblasen-Set an. Und dann brachte eine liebe Freundin noch eine ganze Tasche mit Büchern, Puzzeln und Hörspielen an. Diese neuen Reize haben uns unglaublich geholfen, die Eintönigkeit der Tage besser auszuhalten.

Unser Bild vom Kind – ein Tyrann?

Ich führe viele zauberhafte Gespräche mit dem Frosch, nicht zuletzt inspiriert vom Podcast Mira und das fliegende Haus. Wir hören Hexe Lindenbart mal wieder zu Hause, wir kuscheln ganz viel. Der Frosch ist entweder nackig oder im Schlafanzug und holt sich ganz viele Haut auf Haut Kuscheleinheiten ab (Oxytocin!). Wie gut dieses zauberhafte Wesen für sich sorgt!

Ich denke viel nach in diesen Tagen. Während ich auf dem Boden sitze oder liege, noch mehr Dinosauerier bastel oder durch Instagram scrolle. Was unser Menschenbild mit Kinderziehung zu tun hat, wird durch die aktuelle Diskussion rund um das „System Winterhoff“ deutlich. Danke an dieser Stelle an Inke Hummel und Herbert Renz-Polster für ihre Arbeit zu diesem Thema!

Kinder sind keine Tyrannen, die ich mit Gewalt zu erwünschtem Verhalten zwingen kann. Die ich bestrafen muss, damit sie was auch immer endlich mal lernen. Punkt. Ja, mein Kind hat in diesen Tagen zu Hause einige Wutanfälle und Gefühlsstürme. Weniger als im Alltag, jedoch heftiger. Einen Nachmittag ist er so wütend auf mich, weil ich den Fernseher ausschalte, dass er auf mich einschlägt. Ich begleite es. Mit Zugewandter Klarheit. Ich halte seine Fäuste fest, nehme ein Kissen, lass ihn schlagen. Die Wut muss raus. Später sage ich „Ich weiß, mein Schatz. Du möchtest noch mehr Fernsehen. Es ist soooo unglaublich langweilig nach so vielen Tagen hier zu Hause!“ Genau damit bekommt sein Gehirn wieder einen Ja-Impuls. „Du darfst nicht raus und das ist sooo gemein!“ Und er kommt in meine Arme. Wir weinen gemeinsam. Dann holen wir die Geschenkpapier-Kiste raus, suchen nach neuen Materialien und finden Schnüre, mit denen wir wieder unsere Dopamin-Speicher aufladen. Eine tolle Idee!

„Ohnmächtige Kinder gilt es zu verstehen, nicht zu entmachten.“

Ulrike Mattern-Ott, Kinderpsychiaterin, in der ARD Dokumentation „Kinder sind keine Tyrannen

Genau das ist der Frosch gerade: Ohnmächtig. Und seiner Freiheit beraubt. Für etwas, das er nicht ansatzweise versteht. Doch eins scheint er zu verstehen: Dass wir uns trotz allem eine möglichst schöne Zeit machen können. Dass wir zusammen das durchstehen. 

Kinder sind Wunder der Anpassung. Genau das ist eine unserer menschlichen Superkräfte. Der Homo Sapiens kann sich an so ziemlich alle Lebensbedingungen anpassen. Und so überleben unsere Kinder nicht nur Tage der Isolation, sondern auch noch ganz andere Belastungen. Die Frage ist nur, wie wir sie in solchen Situationen begleiten. Und wenn ich mir die Zahlen zur Entwicklung der Inobhutnahmen und häuslichen Gewalt in den letzten beiden Jahren anschaue, läuft es mir kalt den Rücken runter. Wie viele Kinder haben zu Hause keinen solchen sicheren Hafen? Wie viele Kinder haben nicht mindestens eine Bezugsperson, die sie unterstützt und verständnisvoll zur Seite steht? Wie viele Kinder werden aus ihren Familien gerissen und in ein Jugendhilfe-System überführt, in dem diese grausamen Dinge passieren können, wie die überaus mutige ARD-Dokumentation aufgedeckt hat?

Unsere Kinder sind an so vielen Stellen ohnmächtig. Sie sind den Lebensumständen, in die sie hineingeboren werden, hilflos ausgeliefert. Ihr Überleben und ihre mentale Gesundheit sind davon abhängig, wie wir Erwachsene sie ins Leben begleiten. Gerade in Ausnahmesituationen wie Veränderungen (Umzüge, Kindergarten-Eingewöhnung, Einschulung – oder eben in Quarantäne/Isolation) brauchen sie uns als sicheren Hafen. Wir Großen sind diejenigen, die diesen sicheren Hafen aufbauen und instandhalten. Wir tragen die Verantwortung, die Umgebung unserer Kinder so zu gestalten, dass sie sich in ihrer ganzen Zauberhaftigkeit entfalten können.

Ich denke, wir haben als Gesellschaft noch viel zu lernen. Vielleicht ist es utopisch, wenn Daniel Duddek von seiner Mission spricht, Mobbing innerhalb der nächsten zwei Generationen aus unserer Gesellschaft verschwinden zu lassen. Doch ich glaube an diese Vision einer friedvollen Gesellschaft. Nicht eine Gesellschaft ohne Konflikte, das kann es gar nicht geben. Die Konflikte werden zukünftig sogar noch heftiger werden (Stichwort „Integrationsparadox“, Aladin El-Mafaalani). Wir alle sind eingeladen, die vorhandene Vielfalt und ihr Innovationspotential zu nutzen.

Was brauchen wir – und unsere Kinder – für die Zukunft?

Diese aktuelle Krise stellt uns als Eltern, als Familien und als Gesellschaft vor große Herausforderungen. Und sie wird nicht die letzte gewesen sein. Undere Kinder werden vor zahlreichen sozialen, ökologischen und ökonomischen Problemen stehen. Umso wichtiger ist es, ihnen schon heute Krisenkompetenz vorzuleben. Nicht in Panik zu verfallen, sondern gemeinsam Lösungen zu suchen.

Wie wir heute mit unseren Kindern umgehen, beeinflusst schon jetzt die Welt von Morgen. Das ist eine große Verantwortung, die auf unseren Schultern lastet. Doch der erste Schritt ist leicht gemacht. Fangen wir im Kleinen an. Bei uns selbst. Wir können unseren liebevollen und gütigen Blick zunächst auf uns selbst richten. Frieden in und mit uns selbst finden. Elternschaft lädt uns dazu auf eine besondere Art und Weise ein.

Glücklicherweise erkennen zunehmend viele Eltern, dass ein freundlicher und respektvoller Umgang auf Augenhöhe mit unseren Kindern und allen unseren Mitmenschen die neue Normalität werden sollte. Wir wissen, dass wir keine bindungsgestörten Soldaten mehr brauchen, die blind für eine Autorität ins Messer laufen. Wir brauchen mutige Menschen, die in einer vielfältigen Gemeinschaft kreative Lösungen finden. Die eine hohe Frustrationstoleranz haben, wenn mal wieder was schief geht. Kann passieren. Die zuversichtlich und neugierig neue Ideen entwickeln, wenn irgendwas alternativlos scheint.

Wir haben es heute in der Hand, unsere Kinder beim Aufbau dieser Kompetenzen zu unterstützen. Das schaffen wir nicht, indem wir Druck und Gewalt ausüben. Auf unsere Kinder oder uns selbst.

Das gilt im Alltag genauso wie für Ausnahmesituationen wie zwei Wochen Quarantäne mit kleinem Kind. Ja, kack Corona! Es ist schrecklich, was unsere Kinder in diesen Zeiten über sich ergehen lassen müssen. Was wir Eltern leisten ist unglaublich. Ich staune, wie gut der Frosch die Zeit verpackt hat. Die ersten beiden Kindergarten-Tage waren anstrengend für ihn. Und heute morgen sagte er mir, er habe Angst nach draußen zu gehen. „Ja, das kann ich verstehen, mein Schatz. Nach so langer Zeit zu Hause ist das ganz schön viel, oder? Komm in meinen Arm. Ich bin bei dir.“ Und wir gehen zusammen da raus in die große, große Welt. Ich bin gespannt, wie oft uns diese Situation in der kommenden kalten Jahreszeit erwarten wird. Doch ich bin zuversichtlich, dass wir auch das schaffen.

Wenn Gelassenheit im Kopf beginnt, dann beginnt Frieden im Herzen. Lasst ihn uns gemeinsam mit unseren Kindern lernen und in die Welt tragen.

Dieser Beitrag ist Teil der Leuchtturmeltern-Blogparade zum Thema „Friedvolle Elternschaft“.

Ein Kommentar

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner